DIE "LEGENDA AUREA" IN FRANZÖSISCHER ÜBERSETZUNG
Das Objekt des Monats Dezember, eine um 1420 in Paris entstandene Handschrift, ist einer der buchkünstlerisch schönsten Textzeugen der berühmten "Legenda Aurea" von Jacobus de Voragine († 1298) in der französischen Übersetzung durch Jean de Vignay († wohl nach 1340), hier die Version mit den Jean Golein († 1403) zugeschriebenen "Festes nouvelles". Jacobusʼ im Original lateinische Sammlung von Erzählungen über Heilige und Kirchenfeste zählt zu den einflussreichsten Werken der christlichen Literatur.
Erster bekannter Vorbesitzer der Handschrift war Wolfart VI. van Borselen (um 1430-1486), der unter anderem Graf von Buchan und Grandpré war. Auf beiden Schließen findet sich sein Wappen, dessen Gestalt verrät, dass der Codex zwischen 1444 und 1474 in Wolfarts Besitz kam. Später gehörte er Graf Heinrich III. von Nassau (1483-1538). Anfang 1538 verschenkte Heinrich ihn zusammen mit elf weiteren prächtigen französischen Handschriften sowie zwei doppelbändigen, von Hand illuminierten französischen Inkunabeln an Kurfürst Johann Friedrich I. von Sachsen (1503-1554), der sie seiner Wittenberger Bibliotheca Electoralis einverleibte. In allen genannten Bänden findet sich Heinrichs gemaltes Wappen, in einigen (so auch hier) außerdem ein Holzschnitt-Porträt Johann Friedrichs von Lucas Cranach dem Jüngeren (1515-1586). 1547 wurde die Bibliotheca Electoralis aus Wittenberg abtransportiert und 1549 nach Jena verbracht. Daher befinden sich auch alle Bände der Schenkung Heinrichs III. heute in der ThULB, zu deren größten Schätzen sie gehören.
Die voluminöse Handschrift umfasst 380 Pergamentblätter im Format 37,5 x 28,5 cm. Den repräsentativen Anspruch des Buches unterstreicht äußerlich sein noch weitgehend erhaltener roter Samteinband mit vergoldeten Buckeln und Schließen, der im Auftrag Wolfarts van Borselen entstand. Der Band besitzt auch die später hinzugekommene Wittenberger Kette noch. Die Blätter der Handschrift wurden von einem Schreiber zweispaltig auf 46-47 Zeilen im zeittypischen nordfranzösischen Stil (Lettre bâtarde) beschriftet. Elegante, unter Verwendung von Gold gestaltete Initialen mit Fleuronné- bzw. Dornblattrankenbesatz strukturieren den Text. Die Handschrift enthält 67 erzählerisch lebendige Miniaturen in leuchtenden Farben, eine davon ganzseitig (Gottvater und Maria thronen über einer Heiligenschar), die übrigen in die Textspalten eingefügt. Letztere bilden zu Beginn Jean de Vignay, dann jeweils eine(n) Heilige(n) oder summarische Szenen aus dem Neuen Testament und anderen Textquellen ab. Auf der letzten Miniatur ist der Volto Santo von Lucca, ein noch heute erhaltenes Holzkruzifix in der dortigen Kathedrale, zu sehen. In der Forschung hat man den unbekannten Buchmaler dem Umkreis des um 1400/1420 in Paris tätigen sogenannten "Boucicaut-Meisters" zugewiesen.
Die abgebildete Miniatur findet sich auf der Seite 18va der Handschrift. Sie begleitet den Textabschnitt zu Weihnachten (Rubrik: "Cy apres sensuit lystoire de la nativite nostre seigneur"). Das goldgerahmte, 6 x 8 cm kleine Bildfeld, das mit einer L-Initiale verbunden ist, zeigt im Vordergrund Maria im blauen Gewand, auf einer roten Bettstatt liegend. An deren Fußende sitzt Josef, auf Maria blickend. Unter dem Dach des Stalls liegt das Jesuskind, betrachtet von Ochse und Esel. Marias linke Hand ruht schützend auf ihrem Kind. Die Szene ist eingebettet in eine angedeutete Wiesen- und Baumlandschaft, den Hintergrund bildet ein dreifarbiges Quadratnetz. Auf kleinem Raum ist es dem Buchmaler gelungen, ein Sinnbild des Friedens und der Harmonie zu schaffen.
Signatur: Ms. El. f. 86
Ansprechpartner: Dr. Joachim Ott